DADA in Frankenau

Richard Huelsenbeck, Schriftsteller und Psychoanalytiker, wurde am 23. April 1892 in Frankenau/Hessen als Sohn des Apothekers Karl Huelsenbeck geboren. Seine Jugend verbrachte er in Dortmund. Er studierte Medizin unter anderem in Paris, Berlin und Zürich. In Zürich gründete er 1916 mit Hugo Ball und dessen Frau Emmy, Hans Arp, Tristan Tzara das ‚Cabaret Voltaire’ und den ‚Dadaismus’, den er – im Unterschied zu anderen Dadaisten -weniger als künstlerische, sondern vor allem als moralische Protestbewegung gegen Kunst und Gesellschaft des Bürgertums verstand.

 

1917 kehrte er nach Berlin zurück und wirkte bei der Gründung des ‚Club Dada’ und vielen seiner Aktivitäten und Publikationen. Danach unternahm er einige Jahre als Schiffsarzt größere Reisen nach Ostasien, Afrika und Amerika, über die er in Büchern und Aufsätzen anschaulich berichtete.

 

Huelsenbeck emigrierte 1936 nach den USA, da er sich durch den Nationalsozialismus stark gefährdet sah. Er praktizierte in New York als Psychoanalytiker unter dem Namen Charles R. Huelsenbeck, blieb aber weiterhin auch schriftstellerisch tätig. 1970 übersiedelte er nach Locarno-Minusio in der Schweiz, wo er am 20. April 1974 verstarb.

 

„Dies ist ein Lied für Harlem, wo die Schwarzen

schwärzlich schwelgen in schwarzem Schweiß

und in schwarzen Freuden.

Hier in den Hängematten und Häusern

die gefleckt sind wie Tiger

oder Pferden gleichen,

die an Straßen knien,

leben die Kinder ebenso schwärzlich

in Freuden und Leiden,

in Taumel und Tod.“

(1957 aus: New Yorker Kantaten von Richard Huelsenbeck)

 

„Wiedersehen mit Frankenau“

von Richard Huelsenbeck

(aus: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 19.9.1959)

 

Das Wunder stellt sich nur selten im Leben ein, aber manchmal erlebt man das Erstaunliche. Bis vor kurzem wusste ich von Frankenau in Oberhessen nicht viel mehr als die Tatsache, dass ich dort einmal vor vielen Jahren geboren worden war, dass mein Vater sich dort vor der Jahrhundertwende als Apotheker betätigte, und dass meine Mutter sich zwischen Hühnern, Bauern und Misthaufen sehr unglücklich fühlte.

 

Ich hörte auch etwas von der landschaftlichen Schönheit, aber mein Vater machte mir klar, dass man selbst mit der größten Schönheit nur dann leben kann, wenn man ein gutes Einkommen hat. Hier ist aber, wie wir in Amerika sagen, der Punkt. Die Bauern hatten so gut wie kein bares Geld und zahlten mit Hühnern, Butter und Eiern. Es gab andere Schattenseiten, von denen mir mein Vater erzählte. Als typischer und gewissenhafter Deutscher wollte er seinen Beruf ausüben, so wie er sich das dachte, mit Fleiß, Ehrlichkeit, Pünktlichkeit und was sonst an Tugenden vorhanden ist.

 

In New York und Amerika (ich wohne dort als Arzt seit fast einem Vierteljahrhundert), ist es eine Ehre, mehrere Jobs zu haben. Man zählt einfach das Einkommen aus den verschiedenen Tätigkeiten zusammen und lobt sich selbst wegen seiner ‚smartness’, einer Form von Klugheit, die von der Tatsache des Bösen im Menschen ausgeht und diese Kenntnis mit Geschäftssinn verbindet.

 

Mein Vater liebte es, im Gegensatz dazu, keineswegs, neben seiner Tätigkeit als Apotheker auch als Tierarzt konsultiert zu werden. Die Bauern, die Pülverchen für verdorbene Mägen haben wollten, brachten auch ihre Ochsen und Schweine, und mein Vater, der ein eifriger Humanist war, konnte das Gefühl nicht loswerden, dass sie die Ochsen und Schweine und speziell die Gesundheit dieser Tiere dem Dasein und Wohlbefinden der Familien vorzogen.

 

Frankenau war, wie ich aus den Erzählungen hörte, ein armes, gottvergessenes Nest, so arm, so gottvergessen, dass meine Mutter, als sie meiner Geburt im Garten der Apotheke entgegensah, in Tiefsinn verfiel. Die Bauern sagten ihr nach, sie sei nicht richtig im Kopf, sie spinne. Meine Mutter war in der Tat krank, sie saß mit gefalteten Händen auf einer Bank hinter dem Haus (der Apotheke) und starrte auf die Giebel der Ställe, aus denen man hin und wieder den dumpfen Muhlaut der Kühe und des Viehs hörte, das sich hier allein wohl zu fühlen schien und offenbar mit seinem Dasein die Szene beherrschte.

 

„Wir flohen“, sagte mein Vater. „Deine Mutter war krank, vor und nach deiner Geburt, sie weinte am Tag und schrie in der Nacht. Wir holten den Arzt, aber er lebte, wie es schien, auch zu lange unter Ochsen, um noch Verständnis für emotionelle Störungen zu haben. Wir gingen nach Westfalen, ich zurück zur Universität, ich wurde Chemiker und erhielt dann eine Stellung in Dortmund. So ist es gekommen, dass Du zwar in Frankenau geboren wurdest, aber Deine Jugend in Westfalen verlebtest“.

 

So war es in der Tat, aber seltsamerweise hat mir immer etwas daran gelegen, Frankenau als meinen Geburtsort zu erwähnen, wenn ich dazu Gelegenheit hatte. Beim Ausstellen amerikanischer Pässe gibt jeder seinen Geburtsort an, der dann eingetragen wird. Es ist wahr, dass man den vielen eingewanderten Amerikanern niemals einen Vorwurf aus ihrer Herkunft macht, man könnte im Eismeer von einem Matrosen gefunden worden sein, und würde immer noch alle die Möglichkeiten in den Vereinigten Staaten haben, die ein tüchtiger Mensch haben kann. Jedoch will man wissen, woher der und der kommt, es ist eine Wissbegierde, die ohne Erregung und Vorwurf arbeitet. Man stellt fest, dass Mr. Smith, der seinen Namen von Alex Schmiedehammer in Joe Smith umwandelte, aus Sachsen oder Bayern gekommen ist, aber das ist alles.

 

Nun, ich fand es immer etwas beschämend, in meinen Pässen Frankenau als meinen Geburtsort anzugeben, da niemand, aber auch niemand in der weiten Welt weiß, was Frankenau ist. Oft haben mich amerikanische Beamte gefragt: „Was ist Frankenau ...?“ Ich habe mich daran gewöhnt, lächelnd die Achseln zu zucken. „Frankenau ist nichts“ – „Ihre Erfindung, eh“, lächelt der Beamte. Er findet es smart, dass ich mir einen so gut klingenden Geburtsort zugelegt habe.

 

Nun, das Erstaunlichste vom Erstaunlichen ist, dass Frankenau existiert, und zwar so existiert, dass man es mit Ehren nennen kann, sodass ich nun entschlossen bin, jedem Zweifel mit Energie entgegenzutreten.

 

Zwar existieren noch die Ochsengespanne, die meisten Häuser stützen sich noch auf das Fachwerk, auf das meine arme Mutter starrte, die Apotheke steht noch, wie sie war, sie hat noch die alten Töpfe und Näpfchen, in die mein Vater Kräuter und Salben sammelte aber dennoch: Frankenau ist auf dem Weg, eine bedeutende Stadt zu werden. Ich hatte, wie ich sagte, zeit meines Lebens keine andere Beziehung zu Frankenau als die Tatsache, dass ich dort geboren war. Mehr als ein halbes Jahrhundert ist seitdem vergangen, Krieg und Revolution sind vorübergezogen, der Hitlerstumpfsinn und die Hakenkreuzbrutalität haben Deutsche, deutsches Land und deutsche Gewohnheiten in ein böses Licht gerückt – und nun ...?

 

Also lassen Sie mich bitte erzählen, was sich in Frankenau ereignete.

„Was können wir noch für Sie tun“, fragte mein Verleger nach einer freundlichen Zusammenkunft im letzten Jahr. Ich wusste nicht, wie es in meinen Kopf kam, aber da hatte ich weder an diesem Tag vorher noch in den Wochen vorher an Frankenau gedacht. Ich lebte in Amerika, am Central Park West, ich sprach mehr Englisch als Deutsch, ich behandelte Patienten vom Morgen bis zum Abend, die Neurotiker, liebe Menschen, von denen ich meinen Unterhalt bezog (nicht schlecht im Vergleich zu dem , was mein Vater von den Bauern einnahm). Ja, und doch, ich sagte plötzlich:

 

„Fahren Sie mich bitte nach Frankenau.... . „Gern“, sagte mein Verleger, „Sie sind Hesse, und das ist in Frankfurt – es klingt fast wie Frankenau – eine gute Sache. Niemand soll Lokalpatriotismus unterschätzen .... .“

 

So fuhr ich nach Frankenau, über die Autobahn, in etwa drei Stunden; es ist eine Kleinigkeit. Und während ich fuhr, dachte ich an das, was mir meine Eltern, besonders meine Mutter, die sich so furchtbar allein und isoliert fühlte, oft gesagt hatten: „Das Schlimmste war, dass man nicht fortkonnte. Es gab keine Bahn, man musste erst mit dem Leiterwagen zur nächsten Stadt fahren, ehe man das Gefühl hatte, auf dem Weg zur Zivilisation zu sein.“

 

Frankenau ist, um es gleich zu sagen, ein mutiger Ort. Als ich dort ankam, drückte mir jemand eine Geschichte des Ortes in die Hand, die ein Lehrer geschrieben hatte. Als ich sie später in New York las, stellte sich heraus, dass einmal, bei einer französischen Besatzung des Ortes – und wie oft, leider, wurde der Ort besetzt, gebrandschatzt und gequält – ein kühner Bewohner etwas aus seinem Fenster schrie, was mehr oder weniger der berühmten Äußerung des Götz von Berlichingen gleichkam.

 

Es geschah offenbar nichts, niemand wurde gehenkt, kein Haus zerstört, kein Ochse kastriert, und der Fall bleibt einfach als ein Zeugnis menschlicher Unerschrockenheit bestehen. Eine gerechtfertigte Bemerkung gegen eine Besatzungsarmee. Ist es da ein Wunder, dass Frankenau, wenn auch noch viele Jahre vergingen, aus seiner Anonymität hervorkam und nun beginnt, sich einen Namen zu machen?

 

Wir suchten die Apotheke, aber sie liegt in der Hauptstraße für jeden greifbar, mit einem Schild, das wie ein Winker die Straße beherrscht. „Herr Apotheker“, sagte ich als ich eingetreten war „ich komme nicht, um Medizin zu kaufen, noch um einen Magenbitter zu verlangen. Ich möchte Sie bitten, mir das Haus zu zeigen, ich bin hier vor vielen Jahren geboren worden.“ Der Apotheker, ein Mann um die fünfzig, ein freundlicher angegrauter Herr, trat einen Schritt zurück als suchte er nach einer Rechtfertigung für eine unglaubliche Idee, „Sie wollen das Haus sehen“, sagte er, und er lächelte mit einer gewissen Feierlichkeit. „Sind Sie vielleicht Herr Huelsenbeck?“ „Dies ist in der Tat so“, sagte ich etwas verlegen. „Ich bin hier geboren worden, es ist über ein halbes Jahrhundert her, noch mehr als das, es ist einfach nicht mehr wahr, und ich lebe in den Vereinigten Staaten von Amerika, in New York, von wo aus Frankenau nicht mehr ist als eine Imagination.“ „Das kann ich mir denken“, sagte der liebenswürdige Apotheker . „Wir kennen Sie hier seit langem, wir sehen Ihren Namen in den Zeitungen, Sie haben den Dadaismus gegründet, wir wissen nicht recht, was es ist, aber das dürfen Sie uns nicht übel nehmen. Wir werden alles von Ihnen hören, nehme ich an.“

 

„Ich werde Ihnen alles sagen, was ich vom Dadaismus weiß“, sagte ich, den Fußboden bestarrend wie ein junges Mädchen (ich meine ein junges Mädchen zur Zeit meiner Geburt), dem man von der Liebe erzählt. Ich dachte, es sei erstaunlich, dass da, wo man denkt, nicht mehr in vollem Zusammenhang mit unseren intellektuellen Errungen-

schaften zu sein, soviel Verständnis für Modernismus zu finden. Ich machte mich fertig, eine längere Diskussion über das Raumproblem in der Nachkriegsskulptur zu bestehen, aber der gute Apotheker besiegte meine misstrauischen Erwartungen mit seiner familiären Handhabung dieser nicht ganz gewöhnlichen Situation.

 

Hier war ein Mann, der seit vielen vielen Jahren seinen Geburtsort zum ersten Mal besuchte, er war und ist ein Ausländer, er kommt von New York, wo in der Etage eines Wolkenkratzers manchmal mehr Leute wohnen als in ganz Frankenau zusammen; hier ist ein Mann, der viele Dinge tat, und der nun als Arzt, als Psychiater auf dem psychiatrisch heißesten Pflaster der Welt sitzt.

 

„Ich gebe Ihnen dies als Andenken. In dieser runden Holzbüchse verwahrte Ihr Vater die Kräuter, aus denen man Myrrhentinktur macht.“ Der Apotheker gab mir eine braune Holzbüchse, und ich zeigte sie nun oft meinen Freunden in New York.

 

Man sieht an der Inschrift, die in zierlichen Buchstaben gemalt ist, dass sie aus einer Zeit stammt, in der die Menschen wenige mit Bequemlichkeit, aber viel mit Zeit, Arbeit und Gefühlstiefe zu tun hatten. Der Apotheker zeigte mir das Haus, die oberen Stuben, wo ich – niemand weiß genau, wo – geboren wurde, er zeigte mir auch den Garten, und ich hörte das dumpfe Muhen der Kühe, es war noch dasselbe, und der Garten war grün, so wie er damals gewesen war, als meine Mutter hier saß.

 

„Ich muss Sie mit einem der interessantesten Leute von Frankenau bekannt machen“, sagte der Apotheker, „er ist ein Zugezogener, er kam aus Wien, sein Vater ist ein berühmter Kunsthändler (er interessierte sich hauptsächlich für orientalische Kunst), und der Sohn hat nun hier eine Ausstellungshalle, in der asiatische Kunst zu sehen ist.“ Hier ist Frankenaus Anspruch auf öffentliche Anerkennung. Es besitzt unter der Leitung des Herrn Exner nicht nur ein Asieninstitut, es hat einen Verlag (vom selben Herrn geführt), in dem zarte orientalische Poesie publiziert wird, und es hat wirkliche Ausstellungen orientalischer Kunst.

 

Als ich in Frankenau war, gab es eine Ausstellung der bunten Holzschnitte von Hiroshige. In diesem Jahr hat Herr Exner durch eine Ausstellung der von Harrer aus Tibet mitgebrachten Kunstgegenstände offizielle Anerkennung gefunden und einen verdienten Erfolg gehabt. „Wissen Sie“, sagte Herr Exner (mit dem ich in einem kleinen, von seiner Familie geführten chinesischen Restaurant saß, dass dem Institut angeschlossen ist – mein Gott, denke ich, ein chinesisches Restaurant in Frankenau, was kann noch alles aus dieser Welt werden!), „wissen Sie, was wir mit Ihnen vorhaben...?“ Ich erklärte, ich wisse nichts.

 

In der Zwischenzeit war der Bürgermeister erschienen, ein äußerst liebenswürdiger, solid aussehender Frankenauer. „Wir wollen eine Tafel an Ihrem Geburtshaus anbringen. Hier wurde und so. Gründer des Dadaismus, Autor, Arzt... . Sie verstehen... .“

 

Ich muss gestehen, dass ich niemals so nachdenklich war, als ich dann von Frankenau zurückfuhr. Was ist mit mir geschehen...? Ich wurde in Frankenau geboren – allright – ich war einer der Gründer des Dadaismus – allright – ich schrieb einige Bücher, die einigen einiges sagen – allright ... aber es ist nicht so, dass man Tafeln nur dann an Häusern anbringt, wenn die Geschichte über einen Mann ihr Urteil abgegeben hat... Was wird die Geschichte über den Dadaismus sagen, der so oft von den offiziellen Snobs der Literatur und Kunstkritik abgelehnt wurde? Wer hätte gedacht, dass Dada als letzte und beste Bestätigung des guten Willens einiger gebildeter Männer aus Frankenau bedurfte, um der Verewigung sicher zu sein...?

 

(Aus: „Frankfurter Allgemeine“ Zeitung für Deutschland, veröffentlicht am 19.09.1959)